Insa Wilke © IMAGO / CHROMORANGE

"ZEIT"-Artikel um Literaturpreis: "Die Arbeit von Jurys ist bedroht"

Stand: 17.05.2024 14:29 Uhr

Literaturkritikerin und Moderatorin Insa Wilke findet die Veröffentlichung des "ZEIT"-Artikels, in dem zwei Jurymitglieder die Preisvergabe des Internationalen Literaturpreis des HKW kritisieren "sehr schädlich".

"Es ging um Politik, um Geld, um Weltanschauung, auch um Macht. Nur um eines ging es dann nicht mehr: um Literatur." Das ist in der aktuellen "ZEIT" zu lesen, die einen Insiderinnen-Bericht aus der Abstimmung über einen bedeutenden Literaturpreis abgedruckt hat. Die beiden Autorinnen Juliane Liebert und Ronya Othmann erzählen von der Jury-Arbeit für den Internationalen Literaturpreis des HKW (Haus der Kulturen der Welt) im vergangenen Jahr und schildern die heftigen internen Konflikte und Diskussionen um die damalige Preisvergabe. Die weiße französische Schriftstellerin Mariette Navarro und der Ungar Péter Nádas seien aus politischen Gründen nicht infrage gekommen. Ausgezeichnet wurde schließlich der senegalesische Autor Mohamed Mbougar Sarr. Die Literaturkritikerin und Moderatorin Insa Wilke hat selbst schon in einigen Jurys gesessen, unter anderem beim Ingeborg-Bachmann-Preis.

Frau Wilke, Verleger Jo Lendle nennt diesen Bericht aus der Jurysitzung "haarsträubend". Wie geht es Ihnen, haben sich da auch Ihre Haare gesträubt?

Insa Wilke: Ja, auf jeden Fall. Ich weiß nicht, ob aus denselben Gründen wie bei Jo Lendle. Erstmal muss man sagen: Es wird jetzt als Wahrheit gehandelt, was die beiden da geschrieben haben. Es ist aber ihre Darstellung - die muss man erst einmal in Frage stellen. Das, was man an der Diskussion erkennen kann, die da offenbar geführt wurde, ist erstmal eine um Kriterien, um die Funktion von Literaturpreisen. Insofern ein relativ normaler Vorgang in einer Jury. Und im Idealfall wird diese Diskussion auch in einer Jury geführt.

Haben Sie bei Ihrer Juryarbeit auch solche Diskussionen erlebt, wie sie da geschildert werden?

Wilke: Selbstverständlich, das ist ein normaler Vorgang, dass man darüber redet, und da gibt es auch unterschiedliche Sichtweisen. Was ist einem wichtig bei einer Preisverleihung? Da gibt es nicht die eine Wahrheit, sondern man muss sich darüber auseinandersetzen.

Ich würde aber gerne etwas anderes sagen, was ich skandalös an diesem Vorgang finde: Das ist die presseethische Dimension. Es sind nicht nur die beiden Autorinnen, deren Verhalten ich wirklich problematisch und sehr schädlich finde, sondern es ist auch der Umstand, dass die "ZEIT" diesen Artikel gedruckt hat. Es geht da um eine geheime Verhandlung. Es ist ein Gespräch, das nur so stattfinden konnte, weil es auf der Vertrauensbasis, dass nichts aus dem Raum dringt, geführt wurde. Das ist eine Abmachung im Literaturbetrieb, teilweise bei Jurys vorab vertraglich so geregelt.

Jetzt wird es von der "ZEIT" so behandelt, als wären da zwei Whistleblowerinnen, die da quasi wie Edward Snowden auf Leben und Tod etwas preisgeben. Die "ZEIT" schmückt sich damit, die beiden Autorinnen schmücken sich damit. Es geht aber nicht um Leben und Tod, sondern es geht um eine Literaturdebatte, die seit Jahren geführt wird. Es geht um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von bestimmten Schreibweisen und von bestimmten Autor*innen, und es geht um Kriterien. Das andere Problematische daran ist, dass es kein Whistleblower-Vorgang ist, weil es keine schriftliche Grundlage gibt, sondern es sind mündliche Zitate, die nach einem Jahr von den beiden Autorinnen so erinnert werden. Ich frage mich, ob das eigentlich eine Quellengrundlage ist, die presseethisch so vertretbar wiedergegeben werden kann.

Für Sie ist das also ein absoluter Vertrauensbruch?

Wilke: Ja, die Arbeit von Jurys und von Literaturkritiker*innen ist bedroht. Wie sollen wir in Zukunft in Jurys verhandeln, wenn wir nicht wissen, ob irgendwer damit an die Öffentlichkeit geht? Und es ist vor allen Dingen politisch ein Skandal, weil in diesem Klima, das im Moment stattfindet, es notwendig ist, auch in der öffentlichen Auseinandersetzung wieder eine nicht skandalisierende, eine sachbezogene Diskussion herzustellen. Dafür muss man Vertrauen schaffen. Dieser Vorgang, den die "ZEIT" da angestoßen hat, macht das Gegenteil.

Ich möchte auf die Kategorien bei Preisvergaben zu sprechen kommen, denn man denkt: Ja, es geht natürlich ausschließlich um Literatur - das zweifeln Sie auch nicht an. Das wird in diesem Artikel anders dargestellt, nämlich dass es "um Nationalitäten geht, um ethnische Zugehörigkeit, Hautfarbe, um Politik und nicht um Literatur". Hat sich in der Juryarbeit insofern etwas verändert, dass man dafür sensibler geworden ist in den letzten Jahren? Würden Sie sagen, dass das Kategorien sind, die immer mit eingeflossen sind, oder spielen die überhaupt keine Rolle?

Wilke: Die sind immer mit eingeflossen. Es verändern sich die Lager und die Kontexte. Wir haben das jahrelang bei Männern und Frauen gehabt, zum Beispiel in den Frauenbewegungen. Es ist eine lange, uralte, immerwährende Debatte, ob Ästhetik ein unantastbarer, abgegrenzter Raum ist, oder ob ethische, politische Kategorien da mit reinspielen. Das ist eine Diskussion, die immer schon geführt wird. Sie aktualisiert sich in dem momentanen Klima, auch weil es einen Generationenwechsel gibt, auch weil es neue Gruppen gibt, die Mitspracherecht fordern. Es geht da nicht um Hautfarbe oder so, sondern um die Frage: Wer wird eigentlich gesehen, wenn es um literarische Qualität geht? Wie sind Jurys auch blind dafür, weil sie davon ausgehen: Es gibt eine Setzung, das ist literarische Qualität.

Ich weiß es aus eigener Erfahrung: Ich habe dadurch, dass ich so feste Normen hatte, manches nicht gesehen, was ich später dann erkannt habe. Dies ist eine ganz wichtige Debatte, die geführt werden muss - aber nicht so! Nicht, indem man die anderen Kolleg*innen beschädigt, die ausgezeichneten Autor*innen und vor allen Dingen das diesjährige Preisverfahren. Denn es ist ja kein Zufall, dass sie an dem Tag, an dem die Shortlist für den diesjährigen Preis angekündigt wird, damit rausgehen. Das ist alles programmiert und kein Zufall.

Wenn wir über Longlist und Shortlist berichten, dann schauen auch wir Medien immer, wie viele Frauen dabei sind, wie es mit der Diversität aussieht. Sie finden das nach wie vor richtig?

Wilke: Ja, das ist etwas, was man diskutieren kann. Natürlich geht es um literarische Qualität und um literarische Kriterien. Aber es gibt unterschiedliche Ansichten, ob da ethische Dimensionen mit reinspielen. Das ist eine Diskussion, die grundlegend ist und immer wieder neu geführt werden muss - die auch nicht abschließend geführt werden kann. Das ist unser täglich Brot, das ist unsere Aufgabe als Literaturkritiker*innen, und das müssen wir auch verteidigen.

Was glauben Sie, was für Auswirkungen wird dieser Artikel auf die diesjährige Preisvergabe beim Internationalen Literaturpreis des HKW haben - und darüber hinaus?

Wilke: Das ist jetzt noch nicht abzusehen. Da muss man gucken, wie die Diskussion sich entwickelt. Ich weiß, dass viele Kolleg*innen aus der Literaturkritik das ganz problematisch sehen, was da jetzt passiert. Ich ärgere mich unheimlich darüber, dass die "ZEIT" davon profitieren wird und sich damit brüsten kann, eine Debatte angestoßen zu haben. Man hätte diese Debatte anstoßen können, ohne einzelne Personen, ohne einen wichtigen Preis zu beschädigen.

Das Interview führte Eva Schramm.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 17.05.2024 | 16:30 Uhr

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